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Die Wilde Jagd

Wenn es draußen stürmt, die Äste am Haus kratzen und der Wind so heult, als hätte er etwas zu erzählen – dann ist sie nicht weit: die Wilde Jagd.
Vielleicht hast du sie noch nie gesehen. Wahrscheinlich hast du sie aber schon gehört. Oder zumindest gespürt. Dieses „Da ist mehr“-Gefühl, wenn der Winter seine Zähne zeigt.

Die Wilde Jagd gehört zu den ältesten Mythen im deutschsprachigen Raum. Sie ist kein modernes Märchen für Esoterik-Abende, sondern ein uraltes Erbe unserer Ahnen, weitergegeben über Generationen, von Mund zu Mund, von Herz zu Herz.

Und ja – sie ist eng mit den Rauhnächten verbunden.

Ein Mythos, der ganz Deutschland kennt

Kaum eine Sage ist so weit verbreitet wie die der Wilden Jagd, auch Wilde Heer genannt. In jeder Region trägt sie einen anderen Namen, aber das Bild bleibt gleich:

  • ein geisterhafter Zug

  • jagende Reiter

  • Sturm, Lärm, Rufen, Heulen

  • Seelen der Toten, Krieger, Ahnen und Naturgeister

Früher glaubte man, dass diese Jagd nicht ständig, sondern nur zu bestimmten Zeiten unterwegs ist. Vor allem:

  • in den dunklen Winternächten

  • in den Zwölf (oder Dreizehn) Rauhnächten

  • manchmal auch zu besonderen Festzeiten im Jahr

Das ist kein Zufall. Diese Nächte galten schon immer als Schwellenzeit – als Zeit „zwischen den Jahren“, wenn die Ordnung kurz innehält und die Welt durchlässig wird.

Wer reitet da eigentlich?

Je nach Region hat die Wilde Jagd unterschiedliche Anführer. Und genau hier wird es spannend – denn wir stolpern mitten hinein in die germanische Mythologie.

Genannt werden unter anderem:

  • Wodan / Odin – der alte Göttervater, Kriegergott und größte Schamane

  • Frau Holle oder Perchta – Hüterinnen der Ordnung, des Schicksals und der Toten

Besonders interessant:

Der Name „Wode“, der Anführer der Wilden Jagd, ist nichts anderes als eine alte Form von Wodan. Daraus wurden später Begriffe wie Wuotas Heer, Wütendes Heer – bis irgendwann niemand mehr wusste, woher der Name eigentlich kam.

Unsere Ahnen wussten es noch.

Kein Unglück – sondern Erinnerung

Heute hört man oft:
„Oh je, wenn die Wilde Jagd kommt, bringt sie Unglück!“

Das ist eine späte Umdeutung. In den alten Überlieferungen war das anders.

Ursprünglich galt:

  • Die Wilde Jagd bringt Segen

  • Sie erinnert an die Verbindung zwischen Lebenden und Toten

  • Sie zeigt, dass die Ahnen noch da sind

Nur wenn das Wilde Heer zur falschen Zeit erschien, deutete man das als Vorzeichen für einen bevorstehenden Kampf.
Denn – und auch das gehört zur Wahrheit – man glaubte, dass es sich bei den jagenden Seelen um gefallene Krieger (den Einherjern) handelte, die ihrem Stamm beistehen wollten.

Odin sammelt sie um sich. Die Besten. Die Mutigen. Die, die nicht zurückgewichen sind.
Walhall ist kein Wellnesshotel – sondern eine Vorbereitungshalle für das Ende der Zeiten.

Türen zu, Fenster zu – oder besser nicht?

Viele Sagen erzählen, dass die Wilde Jagd nicht nur über Felder und Wälder zieht, sondern:

  • mitten durch Dörfer

  • durch Scheunen

  • ja sogar durch Häuser hindurch

Besonders gefährlich galten Häuser mit zwei gegenüberliegenden Toren. (Daher bauten unsere Vorfahren ihre Häuser noch so, dass Fenster und Türen nicht direkt gegenüber lagen).
Die Jagd liebte klare Durchgänge. Gerade Linien. Freie Bahn.

Man tat also gut daran:

  • den Weg freizumachen

  • sich hinzulegen oder still zu verhalten

  • nicht neugierig zu sein (Neugier war selten lebensverlängernd)

Wer zu forsch war, konnte mitgerissen werden – auf eine unfreiwillige „Luftreise“, wie es in den Sagen heißt.
Quasi ein Ahnenflug ohne Rückflugticket.

Rauhnächte – Die Zeit zwischen den Welten

Die Rauhnächte sind eine magische Zwischenzeit.
Zwischen alt und neu.
Zwischen Tod und Wiedergeburt.
Zwischen Chaos und Ordnung

Es sind die zwölf Nächte, die zwischen dem Sonnenjahr mit seinen 365 Tagen und dem Mondjahr mit seinen 354 Tagen fehlen.

Es sind die Tage bzw. Nächte, die aus der Zeit gefallen sind und sich „zwischen den Jahren“ befinden.

In diesen Nächten:

  • sind die Schleier zur Anderswelt dünn
  • wandern die Ahnen
  • weben die Nornen das neue Jahr

Und ja – die Wilde Jagd reitet.

Wann ist der genaue Start?

Fragst du dich manchmal, wann genau die Rauhnächte „richtig“ beginnen? Am 21. Dezember zur Wintersonnenwende? Oder doch erst in der Nacht vom 24 auf den 25. Dezember?

Hier die gute Nachricht: Beides ist richtig. Und beides ist falsch. Oder anders gesagt: Es spielt keine Rolle.

Manche Menschen beginnen ihre Rauhnächte mit der längsten Nacht des Jahres, wenn die Sonne ihre Rückkehr ankündigt. 

Andere starten an Weihnachten, wenn die christliche und die alte heidnische Tradition ineinander fließen. 

Wieder andere wählen ganz eigene Zeitpunkte, die für sie persönlich stimmig sind.

Und weißt du was? Das ist vollkommen in Ordnung.

Denn worum es wirklich geht, ist nicht der exakte Kalendertag. 

Es geht darum, ein Gespür für diese magische Schwellenzeit zu entwickeln – jene dunklen, mystischen Tage zwischen den Jahren, wenn die Schleier dünn sind und die Wilde Jagd durch die Lüfte zieht.

Ob du räucherst oder nicht, orakelst oder einfach nur in dich gehst, ob du alle zwölf Nächte feierst oder nur ein paar davon – auch das entscheidest du. 

Die Rauhnächte sind keine Prüfung, die du „richtig“ bestehen musst. 

Sie sind eine Einladung, innezuhalten und die besondere Qualität dieser Zeit zu spüren.

Was zählt, ist deine Verbindung zur Magie dieser Tage. Nicht der Kalender.

Warum in den Rauhnächten nichts gewaschen wird

Früher standen in den Rauhnächten:

  • die Spinnräder still
  • die Webstühle ruhig

Warum?

Weil man glaubte, dass die Nornen – die Schicksalsweberinnen Urd, Verdandi und Skuld – in diesen Nächten das neue Jahr weben.

Heute haben wir keine Spinnräder mehr.
Aber wir haben Waschmaschinen.

Und auch die drehen sich im Kreis.
Symbolisch ist das dasselbe Rad. 

Darum:

  • wenn es geht, keine Wäsche waschen
  • nichts draußen aufhängen
  • Ordnung schaffen vor den Rauhnächten

Denn man wollte:

  • die Nornen nicht stören
  • die Geister der Wilden Jagd nicht einladen
  • und ganz sicher keinen Tod, der auf dem Bettlaken spukt (ja, das glaubte man wirklich)

Die 13. Rauhnacht – Wenn Frau Holle kommt

Viele zählen nur zwölf Rauhnächte.
In unserer Tradition sind es dreizehn.

Die letzte ist die Hollanacht oder Perchtnacht.

In dieser Nacht:

  • zieht Frau Holle umher
  • prüft Ordnung und Maß
  • segnet die Häuser

Großzügigkeit wird belohnt.
Geiz eher nicht.
Frau Holle hat Humor – aber keinen Mangel an Konsequenz.

Sie erinnert uns daran:
Das Jahr folgt nicht nur der Sonne.
Sondern auch den 13 Monden.

Und heute?

Heute reitet die Wilde Jagd nicht mehr über unsere Dächer (außer vielleicht als Winterstürme in den Gebirgen) – aber sie tobt:

  • in unserem Terminkalender
  • in der Dauerbeschallung
  • im inneren Getriebensein

Die Rauhnächte sind eine Einladung, stehen zu bleiben.
zu Lauschen.
Still werden.

Vielleicht ist die Wilde Jagd heute nichts anderes als die Erinnerung:

„Du bist nicht allein.
Du bist Teil einer langen Linie.
Es gibt stürmische Zeiten,
Und Zeiten, da darfst du ruhen.“

Wenn draußen der Sturm heult,
mach dir einen Tee.
Zünde eine Kerze an.
Und lass die Ahnen ziehen.

Die Schleier zwischen den Welten werden bald wieder dichter.

Das Rad des Lebens dreht sich weiter.

Und mit Imbolc (Anfang Februar) feiern wir den nächsten Neubeginn in der Spirale des Lebens.